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Der Star des Abends war eine Komposition

Musikverein Viktoria 08 Ober-Roden schrieb sich mit „Oscar for Amnesty“ in die Annalen der hiesigen Musikszene ein.

Weihnachtskonzert 2003

© mecora

Egal wie groß und gut eine Gruppe ist, sie hat während eines Auftritts dafür ihr ganz bestimmtes Potenzial an Kraft. Und wenn das Pulver verschossen, aber der Auftritt noch nicht zu Ende ist, dann muss man sich eben mit den Reserven an Kondition vollends ins Ziel hangeln. Das Blasorchester des Musikvereins Viktoria 08 Ober-Roden hat in der schon lange im Voraus ausverkauften Kulturhalle bei seinem 36. Weihnachtskonzert schon beim zweiten Stück eine Menge Pulver gebraucht.

Bei den Proben waren, wie das Publikum vom Stimmführer der 1. Trompeten, Karl-Heinz Scholtis, hinterher erfuhr, Stimmen laut geworden, die vor dem Stück gewarnt hatten und: dass es für die "Viktorianer" eine Nummer zu groß sein könnte. Aber der es beigebracht hatte, Gesamtleiter Dieter Weis, hat sich durchgesetzt.

Er setzte Vertrauen in seine Leute, war - trotz eigener Zweifel - optimistisch und hat Recht behalten. Und sehr gut daran getan, ein solches Stück aufs Programm zu setzen. Trompeter Scholtis begründete in seiner Abspannrede die Wahl: "Wenn sich ein Orchester weiterentwickeln will, muss es sich schwere und noch schwerere Stücke vornehmen." Natürlich nicht der Schwierigkeitsgrade, sondern der Fortentwicklung wegen.

Und auch nicht so, dass man mit schweren Pfunden wuchert - und scheitert. Nein, Dieter Weis und seine Leute, von denen jeder, so Scholtis, bis an seine Grenzen und darüber hinaus hat gehen müssen, haben gesiegt, eindrucksvoll. Bei früheren Weihnachtskonzerten boten die "08er" oft sehr hoffnungsvollen Newcomern aus den eigenen Reihen oder aus ihrem Umfeld ein Forum - und nicht selten avancierten die Newcomer zu Stars des Abends.

Diesmal war der Star eine Komposition, Dirk Brossés Oscar for Amnesty. Wie von Scholtis gesagt und davor gehört, war ihre Umsetzung schwer, ob der ständig wechselnden kniffligen Rhythmen unberechenbar und heikel. Das Werk ist Musik des 20. Jahrhunderts, ungewöhnlich und für ein Blasorchester nicht im Bereich dessen, was man von ihm erwartet. Auch, weil das Stück eine Aussage hat, etwas, das mit Tragik und Grauen, Vergewaltigung und Folter zu tun hat und nichts mit Kerzenstimmung. "Oscar for Amnesty" ist ein sinfonisches Gedicht, das sozusagen die tragische Lebensgeschichte der salvadorianischen Schriftstellerin Marianella Garcia Villas erzählt, die 1983 wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte ermordet wurde.

Moderator Norbert Rink führte in das Stück ein. Er bediente sich dabei neben eines rezitierten Gedichts in Deutsch auch herausgestellter Hörbeispiele, die er aus dem Orchester nacheinander abrief und so auf Säulen und Essenzen der Komposition aufmerksam machte. Danach setzten Dieter Weis und seine Instrumentalisten das Werk zusammen, bei dem nicht zuletzt durch schlagende Percussions und eine schreiende Trompete rüberkam, um was es dabei ging. Bei den Musikern schien permanent präsent zu sein, vor welche Aufgabe sie ihr Leiter da gestellt hatte - und sie waren bestrebt, so darzustellen, dass am Ende aller Anstrengungen ein gerahmtes Bild stand und nicht Mosaikteile beieinander lagen. Die Viktorianer kämpften, ohne verkrampft zu sein, und siegten geradezu bravourös. Kein Bravo kam indes nach dem Schlussakkord. Die Zuhörer applaudierten dem Werkinhalt angemessen, "ruhig", innig und langanhaltend.

Großen Anteil am Gelingen der Interpretation hatte Orchestermitglied Rebekka Martinez-Mendez, die die Texte (innerhalb) der Komposition rezitierte, emotional, ausdrucksintensiv, unter die Haut gehend - und in Spanisch, was voll überzeugte. Klar, bei dem Nachnamen spricht jemand diese Sprache. Mitnichten, wie hernach Karl-Heinz Scholtis aufklärte. Rebekka Martinez-Mendez spricht nicht Spanisch, was ihre Leistung nur noch aufwertet. "El Camino Real", die Brücke von "Oscar for Amnesty" zur Pause war klug gewählt. Es ist eine "Spanische Fantasie" von Alfred Reed, die nach dem Herzstück des Programms keineswegs die nachdenkliche Stimmung änderte, sondern quasi peu á peu überleitete zum fröhlicheren Teil des Abends.

Beim gesamtspanischen Block hatte besonders das Holz, von Oboe(n) bis Vibrafon, große, wunderschöne Momente.

Bei den im Hinblick auf Oscar for Amnesty hintanstehenden Film- und Musical-Melodien nach der Pause konnte besonders das tiefe Blech, allen voran die Posaunen, glänzen. Geschlossen wurde mit einem Weihnachtslieder-Potpourri.

Bleibt, Dieter Weis wegen der Wahl des Brossé-Werks massiv den Rücken zu stärken. Er hat alles richtig gemacht. Einzig, hinsichtlich von Kondition und Kraft seiner Leute hätte es nach solch einem "Amnesty"-Einsatz ruhig das eine oder andere Stück(eteil) im Restprogramm weniger sein dürfen.

Quelle: Offenbach Post



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